Liebe Freund*innen
Grüsse vom Pult des Tricontinental: Institute for Social Research.
Letztes Jahr spazierte ich mit Mariela Machado durch ihren Wohnkomplex namens Kaikachi in der Nachbarschaft von La Vega (Caracas, Venezuela). Nachdem Hugo Chávez 1999 zum Präsidenten gewählt worden war, entdeckten ein paar Stadtbewohner*innen aus der Arbeiterklasse ein leeres Stück Land und besetzten es. Gemeinsam mit ihnen wandte Mariela sich an die Regierung: «Wir haben diese Stadt gebaut. Wir können unsere eigenen Häuser bauen. Wir verlangen nichts als Maschinen und Baumaterial.» Die Regierung unterstützte sie, und sie bauten einen charmanten mehrstöckigen Komplex, der zweiundneunzig Familien beherbergt.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet sich ein Mittelklasse-Wohnhaus. Manchmal, erzählte Mariela, würden die Leute aus diesem Gebäude Müll nach Kaikachi rüberschmeissen. «Sie wünschen sich, dass wir rausgeworfen werden», sagt sie. Würde die bolivarische Regierung stürzen, und eine oligarchische Regierung sich auf die Seite dieser Bewohner schlagen, würden die Familien vertrieben, welche die Wohnsiedlung gebaut haben – vorwiegend Afro-Venezuelaner – und sie an eine*n Eigentümer*in übertragen. Darum, sagt sie, geht es in ihrem Kampf, einem Klassenkampf, darum, die kostbaren Errungenschaften der Armen gegen die Oligarchie zu verteidigen.
Unter der venezolanischen Arbeiterklasse und bei den städtischen Armen begegnet man überall einer gewissen Identitätskategorie: Chavista. Dieses Wort bezeichnet Frauen und Männer, die sowohl Chávez als auch der Bolivarischen Revolution (die durch dessen Wahl eingeläutet wurde) Treue geschworen haben. Revolutionen sind schwierig; sie müssen es mit Jahrhunderten der Ungerechtigkeit aufnehmen; sie müssen kulturelle Normvorstellungen untergraben und die materiellen Grundlagen für eine neue Gesellschaft schaffen. Revolutionen, so schrieb Lenin, seien langwierige, schwierige und hartnäckige Klassenkämpfe, die nach dem Sturz der kapitalistischen Herrschaft und der Zerstörung des bürgerlichen Staates nicht obsolet werden, sondern bloss ihre Gestalt verändern und in vielerlei Hinsicht erbitterter würden. Hängende Schultern müssen sich aufrichten und Bestrebungen über die grundlegendsten Bedürfnisse hinweg erfüllt werden. So lautete die Agenda von Chávez. Zunächst lieferten Öleinnahmen die Mittel zur Verwirklichung dieser Träume – sowohl in Venezuelas als auch quer durch den globalen Süden –, doch dann brachen die Ölpreise 2015 ein und schränkten den Handelsspielraum des venezolanischen Staates ein, was den Ausbau des revolutionären Wandels angeht. Doch der revolutionäre Prozess stoppte nicht.
Seit 1999 versuchen die wichtigsten Öl- und Bergbauunternehmen alles, um die Legitimität des revolutionären Prozesses in Venezuela zu untergraben – nicht nur, um Zugang zu venezolanischen Rohstoffen zu erhalten, sondern auch, um zu verhindern, dass das venezolanische Beispiel des Ressourcen-Sozialismus andere Länder inspiriert. So schrieb beispielsweise Peter Munk, der Chef des kanadischen Unternehmens Barrick Gold, 2007 einen hetzerischen Leserbrief an die Financial Times mit dem Titel «Stoppt Chávez‘ Demagogie, bevor es zu spät ist». Munk verglich Chávez mit Hitler und Pol Pot und sagte, dass es solchen «autokratischen Demagogen» nicht erlaubt sein sollte, zu regieren. Was Munk – und Führungskräfte anderer Bergbauunternehmen – ärgerte, war, dass Chávez eine «schrittweise Umwandlung Venezuelas» durchführte. Welcher Art war diese «schrittweise Transformation»? Chávez und die Bolivarische Revolution entzogen Unternehmen wie Barrick Gold Zugang zu Rohstoffen und lenkten ihren Reichtum stattdessen um, zum Nutzen nicht nur des venezolanischen Volkes, sondern auch der Menschen in Lateinamerika und anderswo. Diesen Ressourcen-Sozialismus galt es zu zerstören.
Im Jahr 2002 unternahmen die Vereinigten Staaten – mit von der National Endowment for Democracy und USAID bereitgestellten Geldern – einen Putschversuch gegen Chávez. Dieser scheiterte zwar deutlich, beendete jedoch die US-amerikanischen Machenschaften nicht. 2004 stellte der US-Botschafter William Brownfield einen Fünf-Punkte-Plan für die Botschaft auf: Der strategische Schwerpunkt, so schrieb er, liege 1) in der Stärkung der demokratischen [bzw. oligarchischen] Institutionen; 2) im Infiltrieren [bzw. Desorientieren und Aufkaufen] der politischen Basis von Chávez ; 3) in der Spaltung des Chavismo; 4) im Schutz der wichtigen US-Geschäftsinteressen und 5) in Chávez‘ internationaler Isolierung.
Das sind die Bausteine des hybriden Krieges gegen Venezuela, eines Krieges, dessen Taktiken von Sanktionen über die Drosselung der Wirtschaft bis hin zur Verbreitung von Falschinformationen und der Abschottung des revolutionären Geschehens reichen. Die Regierung der Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten (einschliesslich Kanada und einer Reihe von Regierungen in Lateinamerika) haben jeden Versuch unternommen, nicht nur die Präsidenten Chávez und Nicolás Maduro, sondern auch die gesamte bolivarische Revolution zu stürzen. Sollten die USA und ihre Verbündeten einen derartigen Krieg gewinnen, würden sie zweifellos den Kaikachi-Wohnkomplex, wo Mariela Machado eine lokale Anführerin ist, zerstören.
Als ich Mariela 2019 traf, waren die Vereinigten Staaten dabei, sich um die Einsetzung von Juan Guaidó – einem bis dahin unbedeutenden Politiker in Venezuela – als Präsident zu bemühen. Es waren Menschen wie Mariela, die täglich auf die Straße gingen, um dem Putschversuch und dem Hybridkrieg entgegenzutreten, der von Washington, DC, den multinationalen Konzernen und der eingesessenen Oligarchie Venezuelas entworfen wurde. Chavistas wie Mariela haben die Bemerkungen von Chávez aus dem Jahr 2005 sehr wohl verstanden: «Goliath ist nicht unbesiegbar. Das macht ihn umso gefährlicher, denn sobald er sich seiner Schwäche bewusst wird, greift er auf rohe Gewalt zurück. Dieser Angriff auf Venezuela unter Einsatz von roher Gewalt ist ein Zeichen von Schwäche, von ideologischer Schwäche». Was Chávez damals sagte, erinnert an die Worte von Franz Fanon in A Dying Colonialism (1959): «In Wirklichkeit sind wir Zeugen der langsam, aber sicher aufkommenden Todesqualen der Siedler-Mentalität» und der «radikalen Mutation», die der revolutionäre Wandel in der Arbeiterklasse hervorruft. Chavismo ist der Name der revolutionären Energie, der radikalen Mutation des Charakters der Venezolaner*innen, die sich nicht länger willentlich vor der Oligarchie oder vor Washington verbeugen, sondern im würdevollen Kampf nicht bereit sind, sich mit einem Leben der Unterwerfung abzufinden.
Während einer globalen Pandemie hätte eine sensible Welt sich vereint gegen die Strangulation von Ländern wie Venezuela und dem Iran gestellt, die durch einen von Washington ausgehenden Hybridkrieg bedroht sind, der ihre Fähigkeit zur Virusbekämpfung beeinträchtigt. Doch anstatt den Hybridkrieg auszusetzen oder gar zu beenden, verstärkten die Regierung der Vereinigten Staaten – und ihre kanadischen, europäischen und lateinamerikanischen Verbündeten – ihre Angriffe auf Venezuela. Diese Angriffe umfassen die Unterbindung von Venezuelas Nutzung des COVID-19-Fonds des Internationalen Währungsfonds (IWF) ebenso wie die Beschuldigung – ohne Beweise – wichtiger venezolanischer Anführer des Drogenhandels oder der versuchten Invasion des Landes.
Tricontinental: Institute for Social Research arbeitete eng mit Ana Maldonado von Frente Francisco de Miranda (Venezuela), Paola Estrada von der International Peoples Assembly und Zoe PC von Peoples Dispatch zusammen, um die Corona-Schock-Studie Nr. 2 zu erarbeiten: CoronaShock and the Hybrid War Against Venezuela (Juni 2020). Der Text befasst sich mit dem Hybridkrieg gegen Venezuela im Jahr 2020 und zeigt, wie die Vereinigten Staaten – entgegen der inständigen Bitten der Vereinten Nationen – an ihrer Sanktionspolitik und ihren militärischen Angriffen festhalten und diese sogar noch verstärkten. Lest diese Broschüre, diskutiert sie mit Freunden und Genossen und verbreitet sie weiter.
Worte wie «Demokratie» und «Menschenrechte» haben durch den hybriden Krieg ihre Bedeutung verloren. Die Vereinigten Staaten werfen Venezuela «Menschenrechtsverletzungen» vor, während sie gleichzeitig eine Sanktionspolitik betreiben, die einem Verbrechen gegen die Menschheit gleichkommt; die USA bestimmen im Namen der «Demokratie» aus heiterem Himmel einen Mann zum Präsidenten Venezuelas, und missachten dabei jeglichen demokratischen Prozess in Venezuela.
Jahre bevor Chávez gewählt wurde, schrieb der venezolanische Dichter Miyó Vestrini über solche Sprachmanipulationen:
Ich frage mich, ob Menschenrechte wirklich
eine Ideologie sind.
Fernando, der einzige Alkoholiker-Barmann, der nicht in Pension gegangen ist,
spricht in Reimen:
Dunkel ist die Nacht
und mein Herz hab’ ich nicht
Soweit ich verstehe, ist er Einer der Letzten, die
Menschenrechte als Moralität verstehen.
In Washington, DC, verstehen sie «Menschenrechte» offensichtlich als Kriegsmittel.
In der Zwischenzeit haben fünf iranische Öltanker das US-Handelsembargo gegen Venezuela gebrochen, um das Land mit Benzin zu versorgen. Das erste Tankschiff, die Fortune, lief am 24. Mai in den Hafen ein, und das fünfte, die Carnation am 1. Juni . Letztes Jahr wurde ein iranisches Schiff, die Grace 1, in Gibraltar entführt. Diesmal konnten die Vereinigten Staaten es sich dank der die Rückendeckung durch China und Russland nicht leisten, zu intervenieren. Letztere unterstützen Venezuela mit Hilfsmitteln im Kampf gegen COVID-19. Außerdem hat China deutlich gemacht, dass es einen Regimewechsel in Caracas nicht zulassen würde. Als Schutzschild reicht dies nicht aus; es scheint nichts zu geben, was Washington davon abhält, Kriege zu führen.
In den USA stehen die Strassen in Flammen. George Floyd, ein unbewaffneter Schwarzer wurde von einem weissen Polizisten und seinen Kollegen in Minneapolis ermordet. Malcolm X sagte einst: «Ich habe keinen Groll. Ich habe deinen Stiefel in meinem Nacken.» Eine Woche vor George Floyds Ermordung wurde der 14-jährige João Pedro Mattos Pinto in Rio de Janeiro (Brasilien) beim Spielen im Hof seines Hauses von der Polizei getötet; einige Tage später ermordeten die israelischen Besatzungstruppen Iyad el-Hallak (32 Jahre), der in einer Sonderschule im alten Jerusalem arbeitete und lernte. Derselbe Stiefel, der George Floyd, João Pedro und an Iyad el-Hallak in den Nacken gedrückt wird, würgt auch das venezolanische Volk , das jeden Tag unter dem von den USA geführten Hybridkrieg leidet.
Herzlichst, Vijay.
Aus dem Englischen übersetzt von Claire Louise Blaser.