Liebe Freund*innen
Grüsse vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Am 18. Juli veröffentlichte der Generalsekretär der Vereinten Nationen António Guterres den folgenden Tweet: «COVID-19 hat die Lüge entlarvt, dass der freie Markt Gesundheitsversorgung für alle bieten kann, die Fiktion beseitigt, dass unbezahlte Pflegearbeit keine Arbeit ist, und mit der Illusion aufgeräumt, dass wir in einer post-rassistischen Welt leben. Wir schwimmen alle im selben Meer, aber einige cruisen auf Mega-Yachten und andere klammern sich an Treibgut».
Dr. Rajiv Shah, der Präsident der Rockefeller-Stiftung (Vereinigte Staaten), sagte kürzlich, dass sich die Vereinigten Staaten für COVID-19-Tests auf zwei «Monopolunternehmen» (Quest und LabCorp) verlassen, die «in ihren zentralen Verarbeitungssystemen nicht genügend Kapazität für die derzeit erforderlichen Mengen haben». Diese Monopolunternehmen – gefördert durch den freien Markt, von dem Guterres sprach – werden nach dem Prinzip der Gewinnerzielung geführt, d.h. sie sind Just-in-time-Verarbeitungslabors, die nicht über die «Kapazität» verfügen, über die übliche Laborarbeit hinauszugehen; alles andere ist für sie wirtschaftlich ineffizient. Dr. Shah sagt, dass die Testergebnisse nicht in weniger als einer Woche oder zwei Wochen vorliegen. «Mit der siebentägigen Vorlaufzeit», so Dr. Shah, «wird im Grunde gar nicht getestet; strukturell betrachtet ist das gleichzusetzen mit null Tests». Das bedeutet, dass die Vereinigten Staaten mit ihrem angeschlagenen öffentlichen Sektor im Grunde überhaupt keine Tests durchführen. Subin Dennis, ein Forscher am Tricontinental: Institute for Social Research, hat einen umsichtigen Bericht über die Notwendigkeit eines soliden öffentlichen Sektors verfasst.
Aber der Aufbau eines öffentlichen Sektors erfordert Ressourcen. Diese Ressourcen werden durch die vom Coronavirus ausgelöste Rezession erschöpft, eine Rezession, mitverschuldet von ihren eigenen wirtschaftlichen Grundlagen. Die verschiedenen Programme zum Schuldenerlass, wie zum Beispiel die Initiative zur Aussetzung des Schuldendienstes – von der Weltbank und den G20-Finanzministern gebilligt – sind schlichtweg unzureichend; ein neuer Oxfam-Bericht zeigt, dass alle Länder, die sich für diese Initiative qualifizieren, nach wie vor mindestens 33,7 Milliarden US-Dollar zahlen müssten, um ihre Schulden dieses Jahr zu bedienen. Der geforderte Betrag beläuft sich auf 2,8 Milliarden US-Dollar pro Monat, was «dem doppelten Betrag entspricht, den Uganda, Malawi und Sambia zusammen für ihr jährliches Gesundheitsbudget ausgeben».
Einer ganzen Reihe von Ländern droht Zahlungsunfähigkeit. Argentinien, Ecuador und Libanon sind bereits zahlungsunfähig. Aufgrund der Währungskrise ist der medizinische Sektor des Libanon ins Chaos gestürzt. Apotheken, die Medikamente mit harter Währung kauften und importierten, haben geschlossen; die Regierung erstattete den Krankenhäusern die von den Patient*innen im Rahmen der Sozialversicherung in Anspruch genommenen Leistungen nicht, und Arbeitslosigkeit verhinderte den Zugang zu Krankenversicherungen. Angesichts weiterer finanzieller Schwierigkeiten werden diese Staaten ihre Auslagen für den Gesundheitssektor erneut kürzen und die öffentlichen Gesundheitsdienste abbauen – zu einem Zeitpunkt, an dem sich deren Wert zweifellos erwiesen hat.
Kürzlich haben die beiden wichtigsten UN-Organisationen, die sich mit Ernährungsfragen befassen – das Welternährungsprogramm (WFP) und die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) – einen umfassenden Bericht veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass der Ernährungsmangel in fünfundzwanzig Ländern auf das Niveau einer Hungersnot steigen wird, von Haiti bis Simbabwe, vom Libanon bis Bangladesch. Im April sagte WFP-Direktor David Beasley, dass «eine Hungersnot von biblischen Ausmassen» drohe. Nun, so Beasley, zeigen die aktuellsten Zahlen, dass «die ärmsten Familien der Welt noch näher an den Abgrund gedrängt wurden».
Die Staatsschulden dieser Länder erlauben es ihnen einfach nicht, gegen drei Pandemien – Coronavirus, Arbeitslosigkeit und Hunger – gleichzeitig angemessen vorzugehen.
In diesem Zusammenhang haben Dilma Rousseff, T. M. Thomas Isaac, Jorge Arreaza, Yanis Varoufakis, Fred M’membe, Juan Grabois und ich die untenstehende Stellungnahme zum Schuldenerlass veröffentlicht. Wir glauben, dass die durch das Coronavirus ausgelöste Rezession weit mehr als nur abgeschwächte, vorübergehende Schuldenaussetzungen erfordert; wir glauben, dass der Schuldenerlass in unserer Zeit der lawinenartigen Krisen der einzige Weg nach vorn ist.
Erklärung zum Schuldenerlass.
Schätzungen zufolge belaufen sich die Schulden von Entwicklungsländern heute auf über 11 Billionen US-Dollar. Die Schuldendienstzahlungen belaufen sich für den Rest des Jahres 2020 auf 3,9 Billionen US-Dollar. Diese Schulden sind in den letzten Jahrzehnten in die Höhe geschnellt und haben die Mehrzahl der Entwicklungsländer in eine unhaltbare finanzielle Notlage gedrängt. Zahlungsunfähigkeit und Schuldenberichtigungen sind ständige Begleiter von Entwicklungsländern, sie treffen diese Länder immer und immer wieder – aus Gründen, die oft nichts mit den Rahmenbedingungen ihrer Wirtschaft zu tun haben.
Sparpolitik ist zu einem Dauerzustand geworden, was die öffentlichen Gesundheitssysteme zahlreicher Länder geschwächt und sie anfällig gemacht hat für diese globalen Pandemie. Wenn die Entwicklungsländer weiterhin ihren Schuldendienst leisten und aufgrund dieser Schuldenlast in die Pflicht genommen werden, bedeutet dies, dass sie weder in der Lage sein werden, die Pandemie effizient und effektiv zu bekämpfen, noch die Systeme aufzubauen, die für künftige Krisensituationen im Bereich öffentlicher Gesundheit erforderlich sind.
Jeder Dollar, der in den Schuldendienst an eine Bank oder einen wohlhabenden Anleihegläubiger geht, ist ein Dollar, der nicht zum Kauf eines Beatmungsgeräts oder zur Finanzierung von Nahrungsmittelhilfe in Notfällen verwendet werden kann. Während der Corona-Schock-Krise ist dies weder moralisch vertretbar noch wirtschaftlich vernünftig.
Die Suspendierung oder der Aufschub von Schulden stellt keine ausreichende Grundlage für die notwendige Entwicklung dieser Länder dar. So wird lediglich die Abrechnung verzögert.
Der Erlass dieser abscheulichen Schulden, die während der Coronavirus-Rezession ohnehin nicht bezahlt werden können, ist überfällig. Sowohl öffentliche als auch private Gläubiger sind mit ihren Investitionen ein Risiko eingegangen. Sie nutzten die Not der Entwicklungsländer aus, indem sie Geld zu obszönen Zinssätzen verliehen; es ist an der Zeit, dass sie den Preis für dieses Risiko zahlen, anstatt Länder mit knappen Ressourcen zur Auszahlung kostbaren Kapitals zu zwingen.
Dilma Rousseff (ehemalige Präsidentin Brasiliens).
M. Thomas Isaac (Finanzminister, Kerala, Indien).
Yanis Varoufakis (ehemaliger Finanzminister, Griechenland).
Jorge Arreaza (Aussenminister, Venezuela).
Fred M’membe (Präsident, Sozialistische Partei, Sambia).
Juan Grabois (Frente Patria Grande, Argentinien).
Vijay Prashad (Tricontinental: Institute for Social Research).
Wir hoffen, dass diese Erklärung weite Verbreitung findet; dass sie von den Bürgerbewegungen aufgegriffen wird, um Druck auf die Regierungen auszuüben, damit sie keine kümmerlichen Schuldenaussetzungsvereinbarungen akzeptieren, die die Länder weiter in Zyklen langfristiger Zahlungsunfähigkeit gefangen halten.
Das Binnenland Malawi erlangte 1964 die Unabhängigkeit von Grossbritannien, entwickelte sich aber aus dem Erbe der kolonialen Plünderung heraus zu einem der verarmtesten Länder der Welt. David Rubadiri, der erste Botschafter Malawis sowohl in den Vereinigten Staaten von Amerika als auch bei den Vereinten Nationen, hatte diese Entwicklung der Unterentwicklung aus der ersten Reihe beobachtet; er trat schon ein Jahr nach seinem Amtsantritt zurück. Während seiner Lehrtätigkeit in Uganda 1968 schrieb er ein Gedicht mit dem Titel Begging A. I. D. («Um Hilfe betteln»):
In the beggarhood
of a circus
that now is home,
the whip of the Ringmaster
cracks with a snap
that eats through
the backs of our being.In der Bettlerschaft
des Zirkus
der jetzt das Zuhause ist
klatscht die Peitsche des Zirkusdirektors
mit einem Knall nieder
der sich durch
die Rücken unseres Seins frisst.
Hier liegt der Kern des Problems: Der Kolonialismus wurde besiegt, aber seine Strukturen sind geblieben, das Kapital wird nun zu Wucherzinsen zurückgeliehen und die Schulden dienen als Instrument der politischen Kontrolle über die neuen Nationen. Die alten Bilder der Versklavung mussten getilgt werden, um anonymeren Formen der sozialen Herrschaft Platz zu machen. Weder der Pariser Klub (die staatlichen Gläubiger) noch der Londoner Klub (die privaten Gläubiger) noch der Internationale Währungsfonds und die Weltbank haben eine Peitsche in der Hand, aber man spürt dennoch ihre Schläge auf die Menschheit niederklatschen.
Wenn der iranische Schriftsteller Sadeq Hedayat seine Freunden grüsste, sagte er stets: «Wir sind immer noch gefangen in den Fesseln des Lebens» (dar qeyd-e hayat-im). Das sind wir. Die Kampagne zum Erlass der widerwärtigen Schulden ist ein guter Anfang, diese Fesseln zu zerreissen, diese die Peitsche schwingende Hand loszuwerden und sich von dem Machtinstrument der Schuldknechtschaft endgültig zu befreien.
Herzlichst, Vijay.
PS: Unsere Newsletter werden künftig die Tätigkeiten unserer Teammitglieder beleuchten. Hier eine kurze Botschaft unserer stellvertretenden Direktorin, Renata Porto Bugni:
Renata Porto Bugni, stellvertretende Direktorin.
Wenn die Quarantäne endet, werde ich meine Arbeit mit Frauen aus der Umgebung von São Paulo wieder aufnehmen und mich wieder persönlich mit unserem Team treffen. In meiner Freizeit lese ich die Arbeit von Heleieth Saffioti; ihre marxistisch-feministische Vision ist nach wie vor so relevant für unsere Zeit. Ich bin derzeit damit beschäftigt, einen Bericht über den Corona-Schock und seine geschlechtsspezifischen Auswirkungen zu schreiben, der im Laufe dieses Jahres veröffentlicht werden soll.
Aus dem Englischen übersetzt von Claire Louise Blaser.