Liebe Freund*innen
Grüsse vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Am 23. Juli gab der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus, bekannt, dass weltweit 15 Millionen Menschen mit COVID-19 infiziert sind. Die Pandemie hat das Leben von Milliarden von Menschen beeinträchtigt. «Viele sind seit Monaten zu Hause», sagte er. Das Trauma des Grossen Lockdowns fordert einen schweren psychosozialen Tribut. «Es ist völlig verständlich, dass die Menschen ihre Leben weiterführen wollen», sagte Dr. Ghebreyesus. «Aber wir werden nicht zum ‚alten normal‘ zurückkehren. Die Pandemie hat bereits grundlegend verändert, wie wir unsere Leben führen. Zur Anpassung an das ’neue normal‘ gehört auch, dass wir Wege finden, unser Leben sicher zu leben.»
Auf einer Pressekonferenz am 23. Juli in Brazzaville (Republik Kongo) sagte der WHO-Regionaldirektor für Afrika, Dr. Matshidiso Moeti: «Die steigende Zahl der COVID-19-Fälle in Afrika stellt eine wachsende Belastung für die Gesundheitsversorgung auf dem ganzen Kontinent dar.» Es gibt etwa 10.000 bestätigte COVID-19-Fälle unter Gesundheitspersonal in Afrika. «Dies hat sehr reale Konsequenzen für die Personen, die im [Gesundheitssektor] arbeiten», sagte Dr. Moeti. «Jede Infektion unter Gesundheitsfachkräften ist eine zu viel. Ärzt*innen, Pfleger*innen und andere Fachleute des Gesundheitswesens sind unsere Mütter, Brüder und Schwestern. Sie helfen, Leben zu retten, die durch COVID-19 gefährdet sind. Wir müssen dafür sorgen, dass sie über die Ausrüstung, Kompetenzen und Informationen verfügen, die sie brauchen, um sich selbst, ihre Patient*innen und Kolleg*innen zu schützen.» Andernorts ist die Lage genauso schlimm – oder noch schlimmer. Ende Mai gaben zwei Organisationen brasilianischer Pflegekräfte (der Krankenpflege-Bundesverband [COFEN] und der Internationale Rat der Pflegekräfte [ICN]) bekannt, dass in Brasilien die höchste Anzahl Krankenpfleger*innen – mehrheitlich Frauen – an COVID-19 sterben.
Dr. Moeti’s eindringliche Worte erinnerten mich an unser Dossier Nr. 29 (Juni 2020), Health is a Political Choice (Gesundheit ist eine politische Wahl). Unsere Forscher*innen sprachen mit Beschäftigten im Gesundheitssektor aus Argentinien, Brasilien, Indien und Südafrika, um mehr über die Bedingungen ihrer Arbeit und ihre Bedenken zu erfahren, was die Massnahmen ihrer Regierungen zur Bekämpfung der Pandemie angeht. «Noch bevor COVID-19», sagte Lerato Madumo, die Präsidentin der Young Nurses Indaba Trade Union in Südafrika, «war unser Gesundheitssystem bereits angeschlagen. Ganz oben auf der Liste stand der Mangel an Krankenpfleger*innen. Wir sind mit einem Skelett an Pflegepersonal in diese Pandemie gestartet». Jede einzelne Person, mit der wir sprachen, erzählte uns, dass ihr öffentliches Gesundheitssystem durch Sparbudgets geschwächt worden sei, die oft von wohlhabenden Anleihegläubigern und dem Internationalen Währungsfonds durchgesetzt wurden. Diese forderten Zahlungen für den Schuldendienst und kümmerten sich nicht darum, dass dieses Geld aus dem öffentlichen Gesundheits-, Bildungs- und Sozialhaushalt kam. All dies spricht dafür, sich der Forderung nach einem Schuldenerlass für Entwicklungsländer anzuschliessen.
Im April veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation – gemeinsam mit dem International Council of Nurses and Nursing Now – einen Bericht mit dem Titel «State of the World’s Nursing 2020» (Weltweite Situation der Pflegeberufe 2020). Die entscheidende Zahl in diesem Bericht ist jene, die besagt, dass weltweit ein Mangel von fast sechs Millionen Pflegefachpersonal hat. Erstaunlicherweise konzentrieren sich 89% des Mangels auf den globalen Süden, «wo das Wachstum der Anzahl Pflegekräfte kaum mit dem Bevölkerungswachstum Schritt hält». Hierzu gilt es festzuhalten, dass der vom Internationalen Währungsfonds ausgeübte Druck, die Löhne im öffentlichen Sektor niedrig zu halten, um im Gegenzug einen Schuldenerlass zu erhalten, zu niedrigen Löhnen für Pflegefachpersonal führt, von denen viele dann in Länder mit höheren Löhnen abwandern, wodurch das entsteht, was Zuhal Yeşilyurt Gündüz einen Care Drain nennt.
Wenn wir von Pflegepersonal sprechen, sprechen wir weitgehend von Frauen, weshalb wir dabei auf mangelnde Wertschätzung und Diskriminierung eingehen müssen. In einem Beitrag der WHO vom März 2019 findet sich ein Satz, der all der scheinheiligen Rhetorik zur bereits erreichten Gleichstellung der Geschlechter Einhalt gebieten sollte: «Frauen stellen rund 70% des Gesundheitspersonals, verdienen aber im Durchschnitt 28% weniger als Männer». Im Tricontinental: Institute for Social Research führen wir unter der Leitung unserer stellvertretenden Direktorin Renata Porto Bugni eine umfassende Untersuchung der geschlechtsspezifischen Auswirkungen des Corona-Schocks durch, in der solche Fakten näher beleuchtet werden sollen. Dieser Bericht wird in den kommenden Monaten veröffentlicht werden.
International Council of Nurses, I am a nurse (Ich bin ein*e Krankenpfleger*in), 2020
Auf der Grundlage der von unserem Team für Health is a Political Choice durchgeführten Interviews mit Gesundheitsfachleuten entwickelte unser Dossier eine Sechzehn-Punkte-Agenda, die darauf angelegt ist, die Prioritäten innerhalb der Gesundheitssysteme in kapitalistischen Ländern zu verschieben. Sechs davon sind besonders wichtig:
- Wesentliche Aufstockung der COVID-19-Tests für medizinisches Personal.
- Schutz der Arbeiter*innen durch Bereitstellung hochwertiger Schutzkleidung und Masken sowie anderer notwendiger Ausrüstung. Frontarbeiter*innen müssen angemessen im Umgang mit der Krankheit geschult werden.
- Sofortige Bereitstellung von Mitteln für die Schaffung von Ausbildungszentren für Gesundheitspersonal, sowohl für Ärzt*innen und Pflegepersonal als auch für Mitarbeiter*innen im öffentlichen Gesundheitswesen.
- Erhöhung der Gehälter von Gesundheitspersonal und deren regelmässige Auszahlung.
- Anerkennung des Rechts der Arbeitnehmer*innen, ihre Arbeit einzustellen, wenn sie der Auffassung sind, dass die Arbeit eine unmittelbare Gefahr für ihre Gesundheit oder ihr Leben darstellt (Grundlage hierfür sind die Übereinkommen 155 und 187 der Internationalen Arbeitsorganisation).
- Die Einbeziehung der Gewerkschaften des Gesundheitspersonals in Ausschüsse, die die Strategien für den Gesundheitssektor im Allgemeinen und für den Umgang mit der COVID-19-Krise im Besonderen formulieren, sowie die Gewährleistung eines Mitspracherechts bei der Bestimmung solcher Strategien.
Dies sind grundlegende Forderungen, Massnahmen, denen jeder vernünftige Mensch zustimmen würde, nachdem er die Katastrophe gesehen hat, der die Bevölkerung in den kapitalistischen Staaten während dieser Pandemie ausgesetzt war. Viele finden sich auch in unserem Zehn-Punkte-Programms für den globalen Süden nach COVID-19 wieder. Wir sollten dieser Liste eine weitere Forderung hinzufügen:
- Druck auf den IWF und das US-Finanzministerium, nicht länger die Höhe der Gehälter im öffentlichen Sektor als Bedingung für die Gewährung von Krediten vorzuschreiben, so dass die Regierungen im globalen Süden ihre im Gesundheitswesen Beschäftigten angemessen entschädigen können.
Im September 1947 behandelte ein Arzt in Faqus (im Norden Ägyptens) zwei Patienten, die Anzeichen einer Lebensmittelvergiftung zeigten; am nächsten Tag trafen zwei weitere Patienten ein, und er riet ihnen, in das allgemeine Krankenhaus zu gehen. Der Gesundheitsbeamte von Al Qarnah (in Mittelägypten) «war eher verblüfft über die Meldung von zehn Todesfällen an diesem Tag», wie später in einem WHO-Bericht festgehalten wurde. Ägypten hatte bereits sechs Cholera-Pandemien erlebt (1817, 1831, 1846, 1863, 1883 und 1902), und doch waren sich die medizinischen Fachleute in diesem Fall nicht sicher, was die Ursache der Krankheit war. Die Cholera breitete sich im ganzen Land aus, bevor das «Heer aus Ärzt*innen, Sanitätspersonal, Pflegepersonal und Desinfektoren» die Infektionskette zu unterbrechen vermochte; 10.277 Menschen starben bei diesem Ausbruch. Gerüchte, dass die Cholera von britischen Soldaten, die während des Zweiten Weltkriegs in Ägypten stationiert waren, nach Ägypten gebracht wurde, wurden von den britischen Behörden abgewiesen.
Im Irak hörte Nazik al-Malaika (1923-2007) im Radio die Meldungen über den Cholera-Ausbruch. Aus ihrer Betroffenheit entstand ein wunderschönes Gedicht, «Cholera» (auf Englisch übersetzt von Husain Haddawy):
Es ist Nacht
Höre auf das Echo der Wände
das sich über die Stille des Dunkels erhebt
…
die gequälte, überquellende Trauer
die gegen die Wände schlägt
In jedem Herzen brennt ein Feuer
in jeder stillen Hütte der Kummer
und überall weint eine Seele in der Dunkelheit.
Es ist Nacht
Höre auf die Schritte der Vorübergehenden
in der Stille des Morgengrauens
Höre, sehe die Trauerzüge
zehn, zwanzig, nein – unzählige.
…Überall liegt eine Leiche, beweint
ohne Trauerrede oder Schweigeminute.
…
Die Menschheit protestiert gegen die Verbrechen des Todes.…
Cholera ist die Vergeltung des Todes.
…
Sogar der Totengräber ist der Krankheit erlegender Muezzin ist tot,
und wer wird die Toten besingen?
…
Oh Ägypten, mein Herz ist gebrochen von der Verwüstung des Todes.
Sogar der Totengräber ist der Krankheit erlegen, auch das Gesundheitspersonal ist erkrankt. Unsere Herzen sind gebrochen angesichts der Verwüstung des Todes, angesichts der schweren Belastung durch die Coronavirus-Pandemie, die Hungerpandemie, die Pandemie gegen die Hoffnung. Doch selbst in der Düsternis erinnert uns die Dichterin daran, dass «die Menschheit gegen die Verbrechen des Todes protestiert».
Herzlichst, Vijay.
Aus dem Englischen übersetzt von Claire Louise Blaser.