Li Zhong (China), Paintings for Wuhan, 2020.

Li Zhong (China), Paintings for Wuhan (Gemälde für Wuhan), 2020.

 

Liebe Freund*innen

Grüsse vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.

Kaum zu glauben, dass die Welt vor wenigen Wochen noch in Bewegung war. Es gab Proteste in Delhi (Indien) und Quito (Ecuador), Aufstände gegen die alte Ordnung, ausgelöst durch Zorn über die Wirtschaftspolitik der Sparmaßnahmen und des Neoliberalismus oder durch Frustration über die Kulturpolitik der Frauenfeindlichkeit und des Rassismus. Während in Santiago (Chile) Protestwelle auf Protestwelle folgte, projizierte jemand raffiniert eine mächtige Parole auf eine Hauswand: „Wir werden nicht zur Normalität zurückkehren, denn die Normalität war das Problem“. Jetzt, angesichts des neuartigen Coronavirus, kann man sich eine Rückkehr in die alte Welt nicht mehr vorstellen, in die Welt, die uns vor dem Auftauchen dieser tödlichen mikroskopischen Partikel so wehrlos zurückgelassen hat. Wellen der Angst überwältigen uns; der Tod verfolgt uns weiter. Gibt es eine Zukunft, so sagen wir uns, kann es nicht sein, dass sie die Vergangenheit nachmacht.

Zweifellos ist das Coronavirus eine ernste Angelegenheit, und seine Ausbreitung resultiert bestimmt aus seiner Gefährlichkeit für den menschlichen Körper; aber es stellen sich hier auch soziale Fragen, die ernsthaft bedacht werden müssen. Im Mittelpunkt einer jeden Diskussion muss der völlige Zusammenbruch von staatlichen Institutionen in den meisten Teilen der kapitalistischen Welt stehen, wo diese Institutionen privatisiert wurden und wo private Institutionen zur Kostenminimierung und Gewinnmaximierung betrieben wurden.

 

Li Zhong (China), Paintings for Wuhan, 2020.

Li Zhong (China), Paintings for Wuhan (Gemälde für Wuhan), 2020.

 

Am deutlichsten wird dies im Gesundheitssektor: Die öffentlichen Gesundheitseinrichtungen sind unterfinanziert, medizinische Versorgung erfolgt durch private Unternehmen sowie private Krankenhäuser und Kliniken, die Kapazitäten nur soweit ausbauen, wie es profitabel ist. Das bedeutet, es gibt schlichtweg nicht genügend Krankenhausbetten oder medizinische Geräte (Masken, Beatmungsgeräte usw.), weswegen Pflegekräfte, Ärzt*innen, Sanitäter*innen, Reinigungskräfte und andere Personen an der Front gezwungen sind, unter Bedingungen akuter Knappheit zu agieren, in vielen Fällen ohne jeglichen Schutz. Oft sind es die Menschen, die am wenigsten verdienen, die angesichts der sich rasch ausbreitenden Pandemie am meisten riskieren, um Menschenleben zu retten. Im Falle einer globalen Pandemie scheitert das Sparmodell des Privatsektors einfach.

 

Li Zhong (China), Paintings for Wuhan, 2020.

Li Zhong (China), Paintings for Wuhan (Gemälde für Wuhan), 2020.

 

Darüber hinaus ist unser Wirtschaftssystem so vollständig auf den Finanzsektor und die Plutokratie ausgerichtet, dass es den Anstieg von massiver und langfristig prekärer Beschäftigung, Unterbeschäftigung und Arbeitslosigkeit lange Zeit einfach in Kauf nahm. Dieses Problem ist nicht durch das Coronavirus oder den Zusammenbruch der Ölpreise entstanden; es ist ein strukturelles Problem, das bereits vor gut einem Jahrzehnt benannt wurde – Prekariat oder prekäres Proletariat. Aufgrund der Sperren und der Selbstisolation müssen kleine Unternehmen dichtmachen, und die prekären Arbeitnehmer stellen fest, dass die Prekarität sie vollkommen bestimmt. Selbst die hartgesottensten bürgerlichen Politiker sehen sich gezwungen, der Realität in zwei Aspekten ins Auge zu sehen:

  1. Arbeiter*innen existieren. Der vom Staat verhängte Generalstreik zur Verhinderung der Ausbreitung des Virus und seine Auswirkungen haben bewiesen, dass es die Arbeiter*innen sind, die in unserer Gesellschaft Mehrwert generieren, und nicht die «Unternehmer», die Ideen produzieren, von denen sie behaupten, dass sie auf wundersame Weise Reichtum erzeugen. Eine Welt ohne Arbeiter*innen ist eine Welt im Stillstand.
  2. Der Anteil des globalen Reichtums und Einkommens, den die Arbeiter*innen kontrollieren, ist mittlerweile so klein, dass ihnen während Einkommensausfällen wie den jetzigen nur begrenzte Reserven zur Verfügung stehen. In den Vereinigten Staaten, einem der wohlhabendsten Länder der Welt, ergab eine Studie der US-Notenbank aus dem Jahr 2018, dass 40% der US-Haushalte nicht über die Mittel verfügen, um unerwartete Ausgaben von rund 400 Dollar zu bewältigen. In der Europäischen Union ist die Situation nicht viel besser, hier zeigen die Daten von Eurostat, dass 32% der Haushalte unerwartete Ausgaben nicht tragen können. Deshalb wird in den kapitalistischen Staaten nun ausdrücklich von umfassender Einkommensunterstützung – sogar vom universellen Grundeinkommen – gesprochen, um den Zusammenbruch der Lebensgrundlagen zu verhindern und die Verbrauchernachfrage anzuregen.

 

Josef Lee (Singapore), Comics in Response to the Coronavirus, 2020.

Josef Lee (Singapur), Comics in Response to the Coronavirus (Comics als Antwort auf das Coronavirus), 2020

Vergangene Woche haben die Internationale Volksversammlung und das Tricontinental: Institute for Social Research ein 16-Punkte-Programm für diesen komplizierten Moment veröffentlicht. Eine Verkettung von Krisen ist uns aufgefallen: Da sind die langfristigen Strukturkrisen des Kapitalismus (Rückgang der Profitrate, niedrige Investitionsraten im Produktionssektor, Unterbeschäftigung und prekäre Beschäftigung), und da sind die kurzfristigen konjunkturellen Krisen (Zusammenbruch des Ölpreises, das Coronavirus).

Selbst von Anlagefirmen wird inzwischen weitgehend anerkannt, dass die Strategie zur Überwindung der Finanzkrise 2008-09 nicht funktioniert; grosse Mengen Bargeld in den Bankensektor zu pumpen, wird nicht helfen. Gezielte Investitionen in den Bereichen, die zuvor drastische Sparmaßnahmen erfuhren, sind notwendig – Bereiche wie das Gesundheitswesen, darunter die öffentliche Gesundheit, und die Einkommensunterstützung. Manuel Bertoldi von Frente Patria Grande (Argentinien) und ich setzen uns für eine ernsthafte Debatte zu diesen Themen ein. Anstatt separater Diskussionen über die einzelnen Massnahme braucht es eine Debatte über das Wesen des Staats und seiner Institutionen.

Eine wesentliche Errungenschaft des Sparkapitalismus war die Delegitimisierung staatlicher Institutionen in den Augen der Bürger (insbesondere jener, die sich um das Wohlergehen der Bevölkerung kümmern). Im Westen herrschte die gängige Haltung, Regierungen als Fortschrittsgegner anzusehen und staatliche Institutionen – mit Ausnahme des Militärs – einzuschränken. Länder mit einer robusten Regierungs- und Staatsstruktur wurden als «autoritär» bezeichnet.

Die Krise hat diese Gewissheit jedoch erschüttert. Länder mit intakten Staatseinrichtungen, die in der Lage waren, die Pandemie zu kontrollieren – wie z.B. China – können nicht einfach als autoritär abgetan werden; es ist ein allgemeines Verständnis dafür entstanden, dass diese Regierungen und ihre staatlichen Institutionen effizient sind. Unterdessen hinken die Staaten des Westens, zerfressen von ihrer Sparpolitik, im Umgang mit der Krise hinterher. Das Scheitern des Spar-Gesundheitssystems ist jetzt deutlich sichtbar. Es kann nicht mehr länger behauptet werden, Privatisierung und Sparmaßnahmen seien effizienter als ein System staatlicher Institutionen.

But this crisis has shaken that certainty. Countries with intact State institutions that have been able to handle the pandemic – such as China – cannot be easily dismissed as authoritarian; a general understanding has come that these governments and their State institutions are instead efficient. Meanwhile, the States of the West that have been eaten into by austerity policies are now fumbling to deal with the crisis. The failure of the austerity health care system is now clearly visible. It is impossible to make the case any longer that privatisation and austerity are more efficient than a system of State institutions that are made efficient over time by the process of trial and error.

 

Abduh Khalil (Egypt), Untitled, 1949.

Abduh Khalil (Egypt), Untitled, 1949.

 

Das Coronavirus ist inzwischen nach Palästina gelangt; ein bestätigter Fall in Gaza, einem der größten Freiluftgefängnisse der Welt, ist besonders alarmierend. Der palästinensische kommunistische Dichter Samih al-Qasim (1939-2014) pflegte sein Heimatland das «große Gefängnis» zu nennen, aus dessen Isolation er seine leuchtende Poesie schuf. Eines seiner Gedichte, «Beichte zur Mittagszeit», nimmt uns mit auf eine kurze Reise durch die emotionalen Wunden, die der Welt durch Austerität und Neoliberalismus zugefügt wurden:

I planted a tree
I scorned the fruit
I used its trunk as firewood
I made a lute
And played a tune

I smashed the lute
Lost the fruit
Lost the tune
I wept over the tree

Ich pflanzte einen Baum
Ich verschmähte die Frucht
Ich nutzte den Stamm als Brennholz
Ich machte eine Laute
Und spielte eine Melodie

Ich zerbrach die Laute
Verlor die Frucht
Verlor die Melodie
Ich weinte um den Baum

Alfred Kubin (Austria), Epidemic, 1900-1901 (Stadtische Galerie im Lenbachhaus Munich).

Alfred Kubin (Österreich), Epidemie, 1900-1901 (Städtische Galerie im Lenbachhaus München).

 

In Indien, dessen öffentliches Gesundheitssystem durch Jahrzehnte neoliberaler Wirtschaftspolitik stark geschädigt wurde, beginnen die Auswirkungen des Coronavirus gerade erst spürbar zu werden. Mitten in Indien führt der Staat Kerala (35 Millionen Einwohner), der von der Linken Demokratischen Front regiert wird, eine intensive Kampagne zur Bekämpfung des Coronavirus – wie Subin Dennis, ein Mitarbeiter des Tricontinental: Institute for Social Research, und ich in diesem Bericht erklären. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Kerala strukturell bestimmte Vorzüge aufweist und Maßnahmen ergriffen hat, die zu untersuchen sich lohnt.

 

How is Kerala tackling the Coronavirus pandemic? (Wie geht Kerala mit der Coronavirus-Pandemie um?)

  1. Die linken Regierungen Keralas haben sich in den vergangenen Jahrzehnten für den Erhalt und sogar den Ausbau des öffentlichen Gesundheitssystems eingesetzt.
  2. Die linken Parteien und Organisationen Keralas haben zur Bildung einer Kultur der Organisation, der Solidarität und des öffentlichen Wirkens beigetragen.
  3. Die linke Regierung Keralas hat zügig Maßnahmen ergriffen, um die vom Virus Infizierten durch «Kontaktverfolgung» und Tests an Verkehrsknotenpunkten zurückzuverfolgen.
  4. Staatschef und Gesundheitsminister hielten tägliche Pressekonferenzen ab, die die Öffentlichkeit sachlich mit zuverlässigen Informationen sowie einer Einschätzung der Krise und den neusten Entwicklungen versorgten.
  5. Das Motto «Break the Chain» steht für den Versuch von Regierung und Gesellschaft, Maßnahmen zur physischen Isolation, Quarantäne und Behandlung durchzusetzen, um die Ausbreitung des Virus zu vermeiden.
  6. Das Motto «Physical Distance, Social Unity» betont die Wichtigkeit der Bereitstellung von Ressourcen zur Unterstützung von Menschen in wirtschaftlicher und psychologischer Not.
  7. Öffentliche Aktionen – geleitet von Gewerkschaften, Jugendgruppen, Frauenorganisationen und Kooperativen – zur Desinfektion und Vorbereitung von Hilfsgütern haben den Mut der Menschen gestärkt und sie dazu bewegt, auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu vertrauen, statt im Trauma zu zersplittern.
  8. Schliesslich kündigte die Regierung auch ein Hilfspaket im Wert von 200 Milliarden Rupien an. Dieses beinhaltet Darlehen, die über die Frauenkooperative Kudumbashree  an Familien verteilt werden, höhere Zuschüsse für ein ländliches Beschäftigungsgarantiesystem, zwei Monate Rentenzahlungen an ältere Menschen, kostenloses Getreide, und Restaurants die Nahrung zu subventionierten Preisen bereitstellen. Wasser- und Stromgebühren sowie die Zinszahlungen für Schulden werden ausgesetzt.

Dies ist ein vernünftiges und menschenwürdiges Programm; es sollte gemeinsam mit dem 16-Punkte-Plan geprüft und an anderen Orten eingeführt werden. Zögern heisst, mit Menschenleben zu spielen.

 

Kate Janse van Rensburg (South Africa), Marco Rivadeneira, 2020.

Kate Janse van Rensburg (Südafrika), Marco Rivadeneira, 2020.

 

Kolumbien hat eine landesweite neunzehntägige Quarantäne erlassen. In Kolumbiens Gefängnissen demonstrierten Insassen unterdessen gegen Überfüllung und mangelnde Gesundheitseinrichtungen; sie fürchten die Anzahl der Todesfälle, sollte das Coronavirus durch die Mauern eindringen. Das brutale Eingreifen des Staates führte zum Tod von dreiundzwanzig Menschen. Diese Furcht besteht in Gefängnissen auf der ganzen Welt.

Am 19. März traf sich derweil Marco Rivadeneira, ein wichtiger Anführer der Landarbeiter*innen- und Bäuer*innenbewegung Kolumbiens, mit Bäuer*innen der Gemeinde Puerto Asís. Drei bewaffnete Männer stürmten das Treffen, packten Marco und ermordeten ihn. Er ist einer von mehr als hundert Anführern von Volksbewegungen, die in diesem Jahr in Kolumbien getötet wurden, und einer von achthundert, die seit 2016, als der Bürgerkrieg unterbrochen wurde, ermordet worden sind. Wie das Dossier Nr. 23 (Dezember 2019) vom Tricontinental: Institute for Social Research, zeigt, ist diese Gewalt eine direkte Folge des Unwillens der Oligarchie, Fortschritt zuzulassen. Sie wünschen sich die Rückkehr zu einer „Normalität“, von der sie profitieren können. Marco hingegen wollte eine neue Welt schaffen. Diese Hoffnung sollte mit ihm getötet werden. Das wird nicht gelingen.

Herzlichst,

Vijay.