Liebe Freund*innen
Grüsse vom Schreibtisch des Tricontinental: Institute for Social Research.
Eine Geschichte, in der sich die schrecklichen Zustände auf unserer Welt widerspiegeln: Reporter*innen der Associated Press waren auf einem Schiff der türkischen Küstenwache, das am 12. September 37 Migranten, darunter 18 Kinder, von zwei orangefarbenen Rettungsbooten in der Ägäis aufnahm. Die Flüchtlinge kamen aus Afghanistan, einem Land, das von einem endlosen Krieg erschüttert wird. Einer der Flüchtlinge, Omid Hussain Nabizada, erzählte den Reporter*innen, dass die griechischen Behörden sie in Lesbos festhielten, sie auf Rettungsboote setzten und sie dann in die stürmische See zurücksandten – zum Sterben.
Seit dem 1. März hat Griechenland das Recht von Flüchtlingen auf Asyl suspendiert. Die Behörden bringen die geflüchteten Menschen in provisorischen Lagern unter. Das Aufnahme- und Identifizierungszentrum Moria in Lesbos (Griechenland) wurde für die Aufnahme von 3.500 Personen gebaut, beherbergte zu Höchstzeiten jedoch 20.000 Personen (infolge der Pandemie wurde die Zahl der Bewohner*innen auf 12.000 reduziert). Vier Tage bevor Nabizada und andere aus der Ägäis gerettet wurden, wütete ein Feuer in dem Lager in Moria. Etwa 9.400 Menschen verloren ihre überfüllten Notunterkünfte. Dieses Lager wurde 2015 errichtet, um Migrant*innen auf dem Weg nach Europa von Afghanistan, Syrien und anderen Gebieten, in denen der Westen seine zahlreichen Kriege weiterführt, kurzzeitig aufzunehmen.
Als viele der europäischen Länder begannen, ihre Türen vor den Flüchtlingen zu schliessen, wurde Griechenland zum Engpass auf dem Weg nach Europa und die Flüchtlinge sassen an Orten wie Moria fest.
Im August explodierte der Motor eines Bootes vor der Küste von Zuwarah (Libyen). Dabei kamen 45 Menschen, die aus dem Tschad, Mali, Ghana und Senegal geflüchtet waren, ums Leben. Glücklicherweise überlebten 37 Menschen die Explosion. Das Ereignis hat in Erinnerung gerufen, dass Geflüchtete nach wie vor über das Mittelmeer kommen müssen. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks hat sich der Flüchtlingsverkehr in Italien und Malta im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 sogar verdreifacht. Die Zahl der Menschen, die sich auf der Flucht befinden, ist trotz der Pandemie nicht zurückgegangen.
Während des grossen Lockdown, während Flugzeuge weitgehend passagierlos über weite Teile der Welt fliegen, transportieren Gummiboote und alte Lastwagen weiterhin ungezählte Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben.
Eine Studie der Weltbank aus dem Jahr 2018 zeigte, dass die Hälfte der Weltbevölkerung – 3,4 Milliarden Menschen – unterhalb der Armutsgrenze lebt, eine Zahl, die im Zuge der Pandemie gestiegen ist. Die Kriterien der Weltbank klassifizieren eine Person als arm, wenn sie weniger als 5,50 Dollar pro Tag verdient. Im Laufe des letzten halben Jahrhunderts haben Staaten in zunehmendem Masse die Versorgung mit wichtigen sozialen Dienstleistungen wie Bildung, Kinderbetreuung, Gesundheitsfürsorge, sanitäre Einrichtungen und Wohnraum privatisiert. Diese sozialen Kosten werden heute von Menschen mit geringen Mitteln getragen. Aus diesem Grund schlug der Ökonom Lant Pritchett 2006 vor, die Armutsgrenze auf 10 Dollar pro Tag anzuheben. Aber selbst auf diesem Niveau ist es in einer dieser hyper-individualisierten Gesellschaft einfach nicht möglich, die Grundkosten zu decken. Nichtsdestotrotz veröffentlichte Pritchett auf der Grundlage dieser Schwelle ein wichtiges Dokument, in dem er feststellte, dass 88% der Weltbevölkerung in Armut lebt.
Die erdrückende Last des grossen Lockdown während der Pandemie hat die soziale und wirtschaftliche Lage der überwältigenden Mehrheit der Weltbevölkerung verschlechtert. Im Juni schätzte die Weltbank, dass etwa 177 Millionen Menschen in «extreme Armut» abrutschen werden, der erste derartige Rückfall seit dreissig Jahren. Die Hälfte der Menschen, die aufgrund der Pandemie unter die Armutsgrenze fallen werden, leben in Südasien, während ein Drittel in Afrika südlich der Sahara leben.
Eine neue Studie der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) zeigt, dass die erwerbstätigen Menschen auf der ganzen Welt in den ersten neun Monaten des Jahres 2020 10,7% ihres Einkommens verloren haben; dies entspricht einem Verlust von 3,5 Billionen Dollar. Die Arbeitnehmer*innen in den ärmeren Staaten trugen die Hauptlast mit Verlusten von rund 15% ihres Einkommens, während die Arbeitnehmer*innen in den reicheren Ländern Verluste von 9% ihres Einkommens hinnehmen mussten. Die IAO stellte in den ersten beiden Quartalen des Jahres einen stetigen Beschäftigungsabbau fest, wobei alles darauf hindeutet, dass dieser Rückgang für den Rest des Jahres, wenn nicht sogar dauerhaft, anhalten werden.
Menschen wie Omid Hussain Nabizada verlassen ihre Heimat, wo der Arbeitsmarkt eingebrochen ist, und begeben sich auf eine gefährlich Reise. Im Falle, dass sie die Reise überleben, finden sie bestenfalls (wenn überhaupt) anstrengende Lohnarbeit, verdienen einen Hungerlohn, sparen dieses Geld und schicken es dann nach Hause. Im Jahr 2019 schickten solche Migrant*innen 554 Milliarden Dollar in Form von Rücküberweisungen an ihre Familien in ihren Herkunftsländern. Einige Länder – wie Haiti, Tadschikistan und Kirgisistan – sind für mehr als ein Viertel ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf diese Rücküberweisungen angewiesen. Im April 2020 schätzte die Weltbank den «stärksten Rückgang der Rücküberweisungen in der jüngeren Geschichte», nämlich um 19,7% auf 445 Milliarden Dollar. Diese Einbrüche haben zusammen mit sinkenden ausländischen Direktinvestitionen und dem Kollaps der Exporte in zahlreichen Ländern des globalen Südens in vielen dieser Länder bereits zu gefährlichen Zahlungsbilanzproblemen geführt.
Die Weigerung wohlhabender Anleihegläubiger (Londoner Klub) und der Länder, die sie unterstützen (Pariser Klub), einen Schuldenerlass oder sogar eine echte Aussetzung der Schulden zu gestatten, bedeutet einen immensen Druck für diese Staaten wie auch für die Familien, die eine wichtige Quelle ihres Grundeinkommens verlieren werden.
Der Mangel an Grundversorgungsleistungen – insbesondere an medizinischer Versorgung inmitten dieser Pandemie – wird eine noch ernstere Notlage schaffen. Im Jahr 2017 warnten die Weltbank und die Weltgesundheitsorganisation davor, dass die Hälfte der Weltbevölkerung keinen Zugang zu grundlegenden Gesundheitsdiensten hat und dass jedes Jahr 100 Millionen Menschen aufgrund des fehlenden Einkommens zur Deckung der Gesundheitskosten in die Armut getrieben werden. Diese Schätzung ist konservativ, da allein in Indien – laut der nationalen Umfrage zum Sozialkonsum – in den Jahren 2011-12 55 Millionen Inder*innen Gesundheitskosten als Grund für ihre Verarmung angaben. Die Warnung wurde nicht beachtet.
Am 10. September 2020, dem Welttag der Suizidprävention, erinnerte uns der Generaldirektor der WHO, Dr. Tedros Ghebreyesus, daran, dass alle vierzig Sekunden jemand durch Selbstmord stirbt. Er betonte, dass die Mittel, mit denen viele Selbstmord begehen, von den Menschen ferngehalten werden müssen, «einschliesslich Pestiziden und Schusswaffen». Die Nennung von Pestiziden verweist auf die Selbstmordepidemie im ländlichen Indien, wo hunderttausende von Bäuer*innen und Landarbeiter*innen gestorben sind; dies wurde in einer Reihe aussagekräftiger Berichte von Tricontinental: Institute for Social Research Senior Fellow P. Sainath enthüllt. Das National Crime Records Bureau in Indien hat belegt, dass im Jahr 2019 – vor Ausbruch der Pandemie – jeder vierte Selbstmord von Tagelöhner*innen begangen wurde. Dies sind die Menschen, die am härtesten von der Pandemie und dem Grossen Lockdown betroffen sind; erst der Bericht des nächsten Jahres wird die Auswirkungen der tiefgreifenden sozialen Konsequenzen für Landwirt*innen, Landarbeiter*innen und Tagelöhner*innen in vollem Umfang erfassen, die alle ebenfalls auch von den drei pro-Agribusiness Landwirtschaftsgesetzen betroffen sein werden, die der indischen Bevölkerung diesen Monat von der Regierung aufgezwungen werden.
Letzte Woche starb in Istanbul der Auslandskorrespondent André Vlteck (1962-2020). Vor einigen Jahren machte André mich mit dem kubanischen Sänger Silvio Rodríguez bekannt, insbesondere mit seinem Lied La Maza. Hier sind einige Zeilen von Silvio, zu Ehren von André:
Wenn ich nicht glauben würde, was ich glaube
Wenn ich nicht an etwas Pures glauben würde
Wenn ich nicht an jede Wunde glauben würde
…
Wenn ich nicht an das glauben würde, was wehtut
Wenn ich nicht an das glauben würde, was bleibt
Wenn ich nicht an das glauben würde, was kämpft
…
Was wäre dann mein Herz?
Was wäre des Steinmetz Werkzeug ohne Steinbruch?
Die grösste Tyrannei unserer Zeit ist ein Gesellschaftssystem, das die Mehrheit der Weltbevölkerung in Armut stürzt, oder ermordet, so wie die Menschen, die kürzlich im Mittelmeer ertrunken sind, nur damit eine kleine Minderheit ein Leben im Luxus führen kann. Wenn ich nicht an eine andere Welt glauben würde, würde mir das Atmen schwer fallen.
Herzlich, Vijay.
Aus dem Englischen übersetzt von Claire Louise Blaser.