Liebe Freund*innen
Grüsse vom Pult des Tricontinental: Institute for Social Research.
SARS-Co-2 oder COVID-19 breitet sich rasch über den Planeten aus und lässt dabei keine Region unberührt. Es handelt sich um ein mächtiges Virus mit einer ausreichend langen Inkubationszeit, um die Symptome zu verbergen und somit immer mehr Menschen in seine tödlichen Arme zu schließen.
Langsam macht die Welt dicht, Angst überkommt uns. Aber Angst ist keine Option. Das Virus ist tödlich, aber es ist nicht nur das, was die Angst auslöst. Ein Großteil der Welt hat Angst, weil die Menschen erkennen, dass wir in institutionellen Wüsten leben, dass unsere gewählten Führungspersonen größtenteils inkompetent sind und dass durch das Gewinnstreben der Großteil des menschlichen Potenzials auf Geld statt Menschlichkeit ausgerichtet ist. Die tiefe Einsamkeit, die wie ein Schleier über die Welt gefallen ist, rührt genauso von dieser Erkenntnis her wie von der erzwungenen sozialen Isolation. Die Mehrheit der Regierungschefs der Welt verlässt sich auf Angst, um ihre Bevölkerung zu verwirren; sie gedeihen in Zeiten jeglicher Art von Panik. Sie haben schlichtweg nicht die moralische Stärke, uns zu führen, während diese Pandemie sich durch unser Leben frisst.
An einem unwahrscheinlichen Ort, der Financial Times, schreibt der Afrika-Redakteur David Pilling über die Krise, die durch die Verlagerung von öffentlicher auf private Gesundheitsversorgung hervorgerufen wurde. Er schreibt, es bestehe «die Versuchung, Gesundheit als persönliche Angelegenheit zu betrachten», da nicht übertragbare Krankheiten wie Krebs, Bluthochdruck und Diabetes andere Leiden ausblenden; das Gegenmittel gegen jene Leiden wird als persönlich (ein Fitnessprogramm) und privat (eine teure Krankenversicherung) wahrgenommen. Mit dem explosionsartigen Anstieg privater medizinischer Hochschulen, privater Krankenhäuser und privater Pharmaunternehmen ist das öffentliche System verkümmert. Diese Entwicklung, so Pilling, «ignoriert zwei Tatsachen. Die eine ist, dass die wirksamsten Gesundheitsmaßnahmen, von sauberem Wasser bis hin zu Antibiotika und Impfstoffen, stets kollektiv waren. Die zweite ist, dass die Infektionskrankheiten nicht besiegt wurden. Sie sind bestenfalls in Schach gehalten worden». Es gibt angesichts der gegenwärtigen Katastrophe keine andere Möglichkeit, als die Priorität von Privatisierung auf die Schaffung eines robusten öffentlichen Sektors zu verlagern, zumindest was die Gesundheit angeht.
Sogar in scheinbar vorbildlichen Gesundheitssystemen, die dennoch durch Sparmaßnahmen ausgehöhlt worden sind, sind es die Pflegekräfte und Ärzt*innen, die Rettungsassistent*innen und Hausmeister*innen, die heldenhaft ihre Arbeit verrichten; Ärzt*innen und Pfleger*innen kommen aus dem Ruhestand zurück und arbeiten bis zur Erschöpfung gegen die Ausbreitung des Virus. In dieser kaputten Welt sind unsere Held*innen diejenigen, die uns durch die Bande der Liebe und der Gemeinschaft zusammenhalten, wunderbare Menschen, die bereit sind, sich für das Wohl ihrer Mitmenschen der Gefahr auszusetzen. Betreuungspersonen – ob in Familien oder Institutionen – bekommen nie genug Anerkennung für die enorme Last, die sie tragen, während Politiker den Staat und die Gesellschaft ausweiden. Ich würde eine Welt voller Pfleger*innen einer Welt voller Bänker*innen vorziehen.
Die Berichte aus Italien sind erschreckend, doch sie sind auch ein Vorgeschmack dessen, was passieren könnte, wenn das Virus endgültig in die Favelas und Bastis der Welt vordringt. Es ist kaum bekannt, dass die schlimmsten Auswirkungen der Spanischen Grippe von 1918-1919 in Westindien zu verzeichnen waren; von den Millionen, die in dieser Pandemie starben, stammten 60% aus eben diesem Teil Indiens. Die Meisten waren bereits durch die von der britischen Kolonialpolitik herbeigeführte Unterernährung geschwächt. Heute leben die Hungernden in diesen Armenvierteln, die bisher noch nicht stark von dem Virus betroffen sind. Wenn der Tod in den Gebieten Einzug hält, in denen die medizinische Versorgung stark eingeschränkt ist, wird die Zahl derer, die sterben werden, erschreckend hoch sein, und die Abscheulichkeit der Klassenstruktur wird sich in den Leichenhallen zeigen.
Die Dichterin Margaret Randall, deren Memoiren I Never Left Home gerade veröffentlicht wurden, hat uns ein Gedicht geschickt, das die Stimmung dieser Zeit einfängt:
COVID-19
When the death toll is expected
to be in the millions
chances are
someone you love will die.
The plagues of old revisit us now
and we scramble
to stay safe, stay
sane and present for others,
help neighbours, buy only
what we need,
from store shelves emptying
to a beat of fear.
Let us share facemasks
like the Chinese
and wash our hands
in silent prayer.
Let us sing from balconies
imagined and real
like Italians
in nationwide lockdown.
Let us be kind to one another
and organise the remedies
and solutions
irresponsible leaders put at risk.
If this is the Big One,
let us go out
with dignity, if a rehearsal
let us finally propose to live in peace.Wenn die Todesopfer
in Millionenhöhe geschätzt werden
ist zu erwarten
dass jemand, den du liebst, stirbt.Die Seuchen von Dazumal suchen uns nun heim
und wir beeilen uns,
Schutz zu suchen,
geistesgegenwärtig und für Andere Präsent zu bleiben,Nachbarn zu helfen, nur das
zu kaufen, was wir brauchen
aus den Ladenregalen, die sich leeren
im Takt der Angst.Lasst uns Schutzmasken teilen
wie in China
und unsere Hände waschen
in stillem Gebet.Lasst uns von den Balkonen singen
ob imaginär oder real
wie in Italien
während der landesweiten Sperre.Lasst uns gütig sein zu einander
und die Heilmittel organisieren
sowie die Lösungen,
die achtlose Anführende aufs Spiel gesetzt haben.Solle dies das Ende sein,
verabschieden wir uns
mit Würde, sollte es eine Übung sein
lasst uns endlich beantragen, in Frieden zu leben.
Viele Jahrhunderte lang begegneten die Menschen Seuchen wie Cholera und Pest mit großer Trauer und nahmen die daraus katastrophalen Todesfolgen hin, ohne sie zu verstehen. Wenn die Katastrophen zuschlagen, sind es oft Frauen – in ihren Rollen als Pflegerinnen, Mütter, Schwestern – die die Gesellschaft zusammenhalten. Mysteriöse und mystische Erklärungen gibt es zur Genüge. Die Wissenschaft hat uns dabei geholfen, den Fatalismus zu überwinden, der die Menschen verwirrt hat; heute suchen wir in der Sequenzierung von Genen und in der Entwicklung von Impfstoffen nach Erklärungen. Es ist der Glaube an Verstand, Wissenschaft und Solidarität, der chinesische Mediziner*innen und Pfleger*innen in alle Ecken ihres Landes trieb, unter anderem ins Altai-Gebirge, um die Menschen dort zu heilen und dieses sehr gefährliche Virus einzudämmen, das uns in Angst und Schreck versetzt; dieser Glaube hat sie gemeinsam mit kubanischen Ärzt*innen in den Iran, den Irak und nach Italien getrieben, um den Ländern in Not zu helfen. Ihre Ankunft ruft uns die inzwischen einhundert Jahre währende Geschichte sozialistischer Ärzt*innen und Pfleger*innen in Erinnerung, die sich um der Menschheit Willen in die internationale Solidarität gestürzt haben. Diese Menschen teilen die ethische Weltsicht der kommunistischen Ärzt*innen Indiens und deren Volkspolikliniken, über die wir im Dossier Nr. 25 (Februar 2020) geschrieben haben. Dies ist die sozialistische Tradition.
Und dann gibt es die imperialistische Tradition. Angesichts der Ausbreitung von COVID-19 und der Härte, mit welcher der Iran getroffen wurde, wäre des eine humanitäre Geste der Vereinigten Staaten gewesen, alle tödlichen Sanktionen zu beenden und den Iran medizinische Geräte und Ausrüstung importieren zu lassen. Dasselbe gilt für Venezuela, wo COVID-19 inzwischen auch auf dem Vormarsch ist. Paola Estrada vom International People’s Assembly und ich sprachen mit dem venezolanischen Außenminister Jorge Arreaza, der uns mitteilte, dass sein Land «Schwierigkeiten bei der rechtzeitigen Beschaffung von Medikamenten» hat. Venezuela, wie der Iran, wurde jedoch von Chines*innen, Kubaner*innen und der Weltgesundheitsorganisation unterstützt. Sie sind entschlossen, das Embargo des Imperialismus zu zerschlagen und die Kette der Virusübertragung zu durchbrechen. «Sanktionen sind ein Verbrechen», sagt man in Venezuela. Inmitten dieser Pandemie nehmen die unilateralen US-Sanktionen eine besonders kriminelle Dimension an.
Ebenso kriminell ist es, die Besetzung des Gazastreifens (Palästina) fortzusetzen, wenn zwei Millionen Menschen infolge der israelischen Blockade in einem stark überlasteten Gebiet gefangen sind. Den palästinensischen Pflegekräften, Ärzt*innen und dem medizinischem Hilfspersonal sowie den Lehrer*innen und Sozialarbeiter*innen, die ihre geschwächte Gemeinschaft jahrzehntelang zusammengehalten haben, kommt nicht genügend Anerkennung dafür zu, dass sie die palästinensische Gesellschaft am Leben erhalten und widerstandsfähig gemacht haben. Eine von ihnen war Razan al-Najjar, eine einundzwanzigjährige Ärztin, die während des Großen Marschs der Rückkehr unbewaffnete Demonstranten behandelte, die von israelischen Scharfschützen angeschossen wurden. Ein Scharfschütze richtete sein Gewehr auf sie und brachte sie am 1. Juni 2018 gezielt um. Es gibt Tausende von Pfleger*innen, Ärzt*innen und medizinisches Personal wie Razan al-Najjar, die alles dafür geben, die in sich zusammenbrechende Gesellschaft im Jemen aufrechtzuerhalten, wo – aufgrund des saudi-arabischen/emiratischen Krieges – mehr als die Hälfte der Bevölkerung ohne die elementarste Gesundheitsversorgung und Ernährung lebt. Stellt euch vor, was die COVID-19-Plage in Gaza und im Jemen anrichten wird. Diese Blockade, dieser Krieg muss aufhören.
Die Weltgesundheitsorganisation hat sich trotz geringer finanzieller Mittel nach Kräften bemüht, die Ausbreitung des Virus zu bremsen. Falls ihr in der Lage seid, etwas Geld zu spenden, dann tut dies bitte für den Solidaritätsfonds der WHO. Setzt euch für die Verteidigung dieser kaputten Welt ein, indem ihr dem Pflegepersonal, deren Arbeit unsere Rettung bedeutet, helft, uns auf die andere Seite dieser Ruine zu bringen.
Herzlichst, Vijay.
Aus dem Englischen übersetzt von Claire Louise Blaser.